| schroeder on Mon, 1 May 2000 16:49:20 +0200 (CEST) |
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| RE: [rohrpost] Warum es zuwenig interessante Netzdichtung gibt - Neun Thesen |
Hi,
zum Thema (oder auch etwas daneben) einige Ueberlegungen
eines Laienspielers:
Definitionsdebatten zur Netzliteratur sind nun seit langem
mein Hobby. Dabei stellen sich (mir) zwei Schwierigkeiten:
1. der bestehende Dschungel wild gewucherter Ansaetze.
- in den USA vor allem die enge Gleichsetzung mit Hyperfiction,
bzw. (schon netziger) mit kollaborativer Treefiction
- in Europa die offenere Gleichsetzung mit digitaler Literatur
schlechthin.
2. die vorauszusetzenden Definitionen von Netz und Literatur
Punkt 1 werde ich jetzt einmal ausklammern und lediglich anmerken,
dass mir zu viele Abgrenzungsversuche ueber Werkformen unter-
nommen werden. Damit haben wir es aber im Kern gar nicht zu tun.
Zu Punkt 2 rueckt immer mehr das Technische in den Vordergrund.
Und das ist vielleicht ein Fehler.
So sehe ich z.B. nicht ein, warum sich Literatur gegenueber anderen
Netzkuensten durch die Reduzierung auf Text scheiden muss.
Literatur bedient sich der Uebermittlung von Inhalten durch Sprache.
Sie entsteht aber erst wirklich im "Leser" oder "Hoerer". Buecher,
Webpages, Buchstaben sind nicht die Literatur, so wenig Farbe auf
Leinwand Bildkunst ist.
Heute werden die Raender des Literaturbegriffs durch neue Verfahren
der Textproduktion, Textuebertragung und Textspeicherung scheinbar
aufgeweicht. Solange Leser dieser Texte daraus irgendetwas
schoepfen koennen, lassen sich gewiss auch maschinengenerierte
Texte und solche die nicht nur den Leser ansprechen (etwa Programm-
codes) unter Literatur fuehren. Die dadurch bedingten Veraenderungen
liegen jedoch an der Oberflaeche.
Auch die zunehmenden Mischungen aus verschiedenen Schubladen
der Kuenste (bildende Kunst, Musik, Literatur, Buehnenkunst usw.) in
einer Zeit des Samplings und Zappens stellen nur eine quantitative
Novitaet dar.
Schon immer fiel es den Kuensten mehr oder weniger leicht, die
Waende zu den Nachbarraeumen zu durchbrechen, schwer war es
stets, das Gebaeude zu verlassen.
Aus der Perspektive des Kuenstlers/Autors kann man jedenfalls nicht
an den verwendeten Produktionsverfahren oder an den eingesetzten
Mitteln festmachen, ob man es mit Literatur zu tun hat. Noch weniger
an Distributions- und Speichertechniken (auch wenn die gegenwaertige
Organisation des Kulturbetriebs dem entgegen zu stehen scheint
(Galerien/Buchmarkt/Auffuehrungen)).
Das Internet scheint wiederum Technik pur zu sein. Was gibt es nicht
fuer lustige Standpunkte zur Frage, ob das Netz Menschen oder
Maschinen verbindet!
Es geht aber darum, ob das Netz die Literatur wirklich veraendern
kann, so dass sie a) Literatur bleibt und doch b) nicht mehr genau das
Gewohnte ist.
Ich denke, das ja. Vielleicht sogar als Wiederanknuepfung an
verebbte Literaturtraditionen. Wir haben ja doch durch das in den
letzten Jahrhunderten gewachsene Wesen des Literaturbetriebs
Literatur arg eingeschachtelt - so dass es vielleicht mehr die
Veraenderung der Bedingungen der Kommunikation von Literatur
ist, die sie in Bewegung bringt, als die der Produktionsmittel.
Ueberhaupt waere es mir wichtiger, den Umgang mit Literatur
(mit Kunst ueberhaupt) zu veraendern, als bloss neue Arten von
Werken hervorzubringen, ueber deren Katalogisierung man den
reden darf.
Analog zur just in time-Produktion von Buechern, die derzeit den
Buchmarkt verunsichert, kann ich mir durchaus eine just in time-
Produktion von Literatur vorstellen. (Wobei eine nach dem
Wurlitzerprinzip allerdings nicht allzu viel braechte).
Im Zuge der Internet/Technik-Begeisterung ist oft von den Mitteln
des Internet die Rede. Darunter fallen dann erstaunlicherweise
haeufig Datenbe- und verarbeitungsverfahren sowie Schnittstellen.
Hier fehlt die sonst so oft zu hoerende Unterscheidung online/offline.
Bringt man diese konsequent ein, bleibt beinahe nur noch das
Kollaborative (mit etwas weniger labor natuerlich).
Netztypische Techniken einzusetzen, heisst nicht bereits das Netz
einzusetzen. (Und das Programmieren auf der Buehne, waere nur
ein Wechsel ins Nebenzimmer.)
"Kann via Netz verbreitet werden" sagt noch nicht viel mehr als
"Kann am Telefon erzaehlt werden".
In Bezug auf Lesen/Schreiben (diesen bedeutensten Ausschnitt
des heutigen Literaturverstaendnisses) ergibt das zwei
Moeglichkeiten:
- Gemeinsames Schreiben
- Gemeinsames Lesen.
Hierbei nicht nur der Ereignisraum, sondern auch die Zeit beachtet
werden.
Gemeinsam geschrieben wurde nicht wenig und die Schelte blieb
nicht aus - nach dem Muster der mehreren Koeche, die den Brei
verduerben.
Gemeinsam gelesen wird kaum. Hier liesse sich die Technik
durchaus nachbessern. Z.B. nach dem Vorbild mancher "Sex-
Browser", die mehreren Usern ermoeglichen, gemeinsam zu surfen
(also das Gleiche zu sehen) und sich dabei zu unterhalten, ergaenzt
um eine Editierfunktion zum gemeinsamen Bearbeiten der Inhalte
(etwa als Erweiterung um das lektuerebegleitende Gespraech).
Tatsaechlich finde ich heute folgende Formen von "anerkannter
Literatur" im Netz:
- Einfacher Fliesstext, netzpubliziert
- - drunter auch Texte, die im Zusammenhang eines "Netz(er)lebens
entstanden sind
- - darunter auch experimentelle Texte
- - darunter kollaborativ produzierte
- - darunter maschinengenerierte
(wobei eine Software, die aus einer Datenbank Romane erzeugt,
anderes tut als eine, die aus einer Listendiskussion Lyrik zaubert)
Maschinenlesbarer Fliesstext
(ein schoenes Beispiel: die Erzeugung von Toenen und Bildern
nach der Stimmungslage eingegebener alltagssprachlicher Saetze)
- Hypertext
- - (mit den selben Unterpunkten wie oben)
- Text im Medienmix
- - (auch als Hypertexte und mit den selben Unterpunkten wie oben)
- Texte im Mix der Kunstgattungen
(z.B. +Typografie )
- interaktiv maschinengenerierter Text
(in der einfachsten Form z.B. als Anagram-Generator)
- - (auch multimedial)
- kollaborative Schreibumgebungen
(fuer (bestenfalls) nichtstatische, offene Textkorpora)
- kollaborative Leseumgebungen
(nicht nur wie oben erwaehnt, sondern z.B. auch Inhalte,
die sich je nach "Leser"verhalten fuer alle aendern)
- Text"welten"
(etwa MUDs - aber letztlich auch: das Web [-wo ist sie denn,
die Literatur der neuen Welt? Statt dessen: Basteleien])
- - (auch multimedial)
- Mischformen
Nicht dabei sind (d.h.: nicht anerkannt, sehr wohl: vorhanden))
- maschinenlesbarer Text, der das Netz veraendert
(statt nur dort abrufbar zu sein)
- Hypertexte /Hypermedia, die externe Dokumente (Prozeduren)
einbeziehen
- von menschlichen Urhebern "im Angesicht" des Lesers erzeugter
Text (mit kuensterlischer Absicht)
- eine literarische Auspraegung von social cencept art inkl. ihrer
Implementierung
Und ein paar hab ich sicher vergessen (oder kenn sie noch gar nicht).
Alle existieren als digitale Distribution von Text, die vorhanden
sind ueberwiegend stark werkfixiert. Die meisten sind gar nicht
netzig (weil z.B. sie auch auf einer einsamen Maschine mit
entsprechender Softwarekonfiguration "laufen", weil die Tatsache,
dass ein globales Netz zum Austausch von Informationen,
Meinungen, Waren und Dienstleistungen (aber auch Geschichten)
existiert, gar keine Rolle spielt.)
Ich wuensche mir von einer Netzliteratur, die nicht nur aus
Marketinggruenden so heisst, dass sie das Netz mehr als
Kommunikations- denn als Distributionsmedium nutzt (also nicht
das bestellbare Buch durch die downloadbare Datei substituiert),
dass sie "im" Netz intensiver ist als das Gedicht im Buch (wir reden
ja durchaus nicht von Buchliteratur), also z.B. fremde Inhalte mit-
einbezieht, dass sie ihr Selbstverstaendnis nicht nur aus dem
Produktionsvorgang bezieht (sondern aus dem Ganzen der Literatur),
dass sie nicht die Technik, die Software oder die Dateiformate
hernimmt um sich programmatische Werkvorlagen zu basteln,
sondern die Literatur von/fuer/unter Menschen ist, deren Leben
sich durch die Vernetzung wandelt (unabhaengig davon, wie das
jeweilige Netz funktioniert).
Ich teile Florians Einschaetzung des Stellenwerts von Programmier-
kenntnissen. Damit hat der Kuenstler/Autor die Moeglichkeit, das
Medium dem er sein Werk anvertraut zu beeinflussen - auch ueber
einen evtl. Abschluss der Arbeit hinaus.
Wichtig aber ist, dass das auch geschieht.
Ich frage also nicht: was laesst sich im Netz publizieren, was mit
Maschinen anstellen, sondern: wie werden Inhalte und Architektur
des Netzes in kuenstlerischen Prozessen umgestaltet (und sei es
minimal).
Auch glaube ich an die Moeglichkeit einer Vernetzung von
Kunstproduktion und Kunsterfahrung, die schon bald die Orientierung
an Werktypen aufheben wird.
Das ist aber nicht als to do-Programm zu realisieren, sondern muss
sich selbst entfalten.
Der heutige Blick ruht auf einigen Experimenten der Literaturtradition
im Zeitalter ihrer technischen Realisierbarkeit. Und genau das kann
dabei heraus kommen.
Das Neue kennen wir noch gar nicht. (Ich denke auch, wir wuerden
es nicht erkennen, wenn es deutlich sich zeigte: das geht erst im
nachhinein.) Echte Netzliteratur entseht vielleicht gerade jetzt an
einem Ort, den keiner, der nach Bekanntem Ausschau haelt, beachtet.
Die mir so gelaeufigen Tipps agieren jedenfalls alle nach de Muster
"Die Eisenbahn ist eine maschinengetriebene Kutsche, die auf
Geleisen faehrt".
Also:
Buchseite: man kann Texte lesen
Fernsehen: auf der Mattscheibe laeuft das Werk ab
Videospiel: auf der Mattscheibe laeuft das Werk so ab, wie ich es
hinkriege
Computer aided literature: Algorithmen generieren, variieren Daten
Lexikon: Blaettern in Textmassen (zzgl. der Ueberraschung des
blinden Links)
Improvisationstheater: unser Stueck machen wir selbst
usw.
Das, aehm, ist zuwenig.
Nichts, das nicht schon vor 20 Jahren oder laenger (wenn auch vielleicht
etwas teurer) konzipier- bzw. machbar war. Und: nichts, das irgenwas will.
ciao,
dirk
--
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